top of page

Im Fokus: Bildschirme und Kinder - Herausforderungen im Alltag aus kinderärztlicher Sicht

Aktualisiert: 10. Feb. 2021


Fachbeitrag von Dr. med. P. Plebani aus dem GESUNDHEITSMAGAZIN, Herbst 2020



Die Kinderärzt*innen stehen an vorderster Front bei der Prävention der schädlichen Wirkung übermässigen Bildschirmkonsum und können sehr wirksam erzieherische Botschaften übermitteln.


Das Spielen der Kinder ist die Basis für die kindliche Entwicklung (kognitive Entwicklung, Sprachinteraktionen, symbolisches Spiel, Probleme lösen, soziale Interaktionen und körperliche Aktivität) und bietet den Eltern und Betreuenden die ideale Gelegenheit, kreative Gedanken einzubringen (Interaktion), die Bindung zu festigen und mit dem Kind komplexe Welterfahrungen zu erleben. Das gemeinsame Spiel zwischen Kindern, Eltern und Betreuenden ist die beste Förderung für die Entwicklung, dies wurde besonders in Ländern mit verbreiteter Armut nachgewiesen.


Die Zunahme von «Bildschirmzeit» ist direkt mit Abnahme von Spielaktivität und Spiel-Interaktion mit den Eltern und Betreuenden verbunden. Virtuelle Spiele schaffen es zwar immer besser, die physischen Spiele genau nachzuahmen und versuchen diese zu ersetzen. Neue Technologien, sowie Computerspiele können Kinder faszinieren und ihre Aufmerksamkeit für lange Zeit an den Bildschirmen halten, jedoch ist es zum aktuellen Zeitpunkt kein Ersatz für das «Spielen mit den Eltern und Betreuenden.» Es ist geradezu ironisch, dass zu einer Zeit, in der Psycholog*innen und Entwicklungswissenschaftler*innen die wichtige Rolle des menschlichen Körpers beim Lernen erkennen und beschreiben, die Spielentwicklung gegenläufig ist und immer öfter virtuell stattfindet. Auf Grund dieser dramatischen Veränderungen unseres Alltages durch die «digitalen Medien» versuchen Forschende, die Einflüsse und Folgen auf die kindliche - beziehungsweise die menschliche - Entwicklung festzustellen.

Das Phänomen ist sehr komplex und unterliegt einer raschen Evolutionszeit Die digitalen Medien durchdringen unsere Gesellschaft auf vielen unterschiedlichen Ebenen. Sie macht nicht halt vor Demographie, Geographie, Kultur, Soziologie und ist in unserem Alltag fortwährend präsent, Tendenz steigend. Dies macht es so unheimlich kompliziert für die Forschung, mögliche Folgen vollumfänglich und korrekt

vorauszusehen. 

Ein kurzes Beispiel soll veranschaulichen in welchem Zeitraum ein Medium 50 Millionen globale Nutzer*innen erreichen kann: für das Radio wurden 38 Jahre benötigt, für das Fernsehen 14 Jahre, für Facebook 3.6 Jahre und für das iPad gerade noch 80 Tage. Unsere Umwelt ändert sich von Tag zu Tag in einer unmenschlichen Geschwindigkeit, sodass die Kontrolle über medialen Konsum und deren Auswirkung wohl über die Zeit verloren gehen wird. Kein Tag an dem wir nicht an der Tankstelle, Bushaltestelle oder im Büro mit Bildschirmen und digitalen Informationsfluten konfrontiert sind.

Als Beispiel wie lange unsere Gesellschaft die Gefährlichkeit von übermässigem Konsum unbeachtet lassen kann, zeigt klar der Kampf gegen die Tabaklobby. Bis zur Einsicht und zum Beweis, dass Rauchen gesundheitsschädlich und krebserregend ist und bis Politik und Gesellschaft entsprechende Gesetze zum Schutze dieser Gesundheit erlassen hat, ist beinahe ein Jahrhundert vergangen. (S. Mukherjee, der König aller Krankheiten: Krebs- eine Biographie). Der «Medienmissbrauch» fängt schon potenziell im Gebärsaal an. Immer wenn die Mutter durch ein Mobiltelefon stark abgelenkt wird oder die Aufmerksamkeit auf einen sonstigen Bildschirm richtet, erfolgen ihre Reaktionen auf Signale und Bedürfnisse des Säuglings verzögert und/ oder mit zu wenigen verbalen und non-verbalen Interaktionen, sowie Ermutigungen gegenüber dem Säugling (Radesky, 2018).  Für eine gesunde Entwicklung des Säuglings ist eine stabile Mutter-Kind-Bindung mit zeitgerechter und adäquater Wahrnehmung der kindlichen Signale, sowie deren korrekten Interpretation mit entsprechender Zuwendung unabdingbar. Im extremen Fällen, bei regelmässiger Störung dieser Bindung durch Mobiltelefone und anderweitiger digitaler Ablenkung der Mutter, kann es zu Bindungsstörungen mit konsekutiver Entwicklungsstörung führen (so ähnlich wie bei einer Mutter, welche an Depressionen leidet). So eine deutsche Sensibilisierung Kampagne «Sprechen Sie lieber mit ihrem Kind». Für das Kleinkindesalter ist es nachgewiesen, dass wenn ein Fernsehgerät im Hintergrund läuft die Eltern-Betreuenden-Kind Beziehung negativ beeinflusst wird mit weniger sprachlichem Austausch (Arch Paediatr Adol Med 2009, Christakis), weniger gemeinsamen Interaktionen und weniger komplexen, daher auch weniger nachhaltigen, Spielinteraktionen (Kirkorian, Child Dev 2009). Weniger sprachliche Spielaktivitäten bedeutet die Entwicklung eines kleineren Wortschatzes im Alter von 17 Monaten (Masur, First Language 2016). Ähnliches wird auch für den übermässigen Tablet-Gebrauch bei Kindern beschrieben. Im Vergleich zum Spiel in traditioneller Weise sind die «Tablet-Kinder» öfters alleine oder haben das Gefühl alleine zu sein, wohingegen die Eltern und Betreuenden zu Statist*innen und Zuschauenden verkommen, da die Aufmerksamkeit des Kindes komplett vom Tablet absorbiert und gesteuert wird (Radesky, 2018). Zudem ist der Effekt der klassischen Fernsehwerbung nicht zu unterschätzen. Regelmässiger Konsum von Werbe-Sendungen führt- das ist gut dokumentiert und ein integraler Bestandteil der Marketing-Branche -zu Anpassung vom Konsumverhalten - auch bei Kindern! Als Eltern und Betreuende tut man gut daran getan das Bildungspotential von Cartoons zu beachten und Themen, sowie Inhalt bewusst zu wählen. Auch soll die Sendung/ der Cartoon nach dem Ende der Übertragung mit dem Kind thematisiert und diskutiert werden. So kann der Cartoon zum Anlass für kreative Arbeit genutzt werden (zum Beispiel das Kind aus dem Cartoon malen lassen, was am besten gefallen hat, oder sich ein alternatives Ende der Geschichte einfallen lassen usw.), der Wortschatz eines Kindes verbessert und generell Verständnis von Zusammenhängen gefördert werden. Die BLIKK-Studie aus Deutschland (mit 5500 Kindern und Jugendlichen) zeigt auf, dass die Medienkompetenz der Erziehungsberechtigten (Eltern) oft nicht adäquat ist und dass eine signifikante statistische Zusammenhänge zwischen einem erhöhtem elektronischem Medienkonsum und Entwicklungsauffälligkeiten der Kinder gibt, wie: • Sprachentwicklungsstörung • Hyperaktivität und Konzentrationsstörung • Body-Mass-lndex (Adipositas) • Bindungsstörungen • Einschlafstörungen • Risiko für aggressives Verhalten oder Isolierung • Abhängigkeitspotential Eine zentrale Rolle spielen die Häufigkeit der Nutzung und der Medieninhalt und es braucht eine Verbesserung der Sensibilisierung der Eltern und Betreuenden zum Erreichen einer kompetenten Mediennutzung. Allerdings muss noch eine «Ursache-Wirkung-Untersuchung» erfolgen (ist erhöhter Medienkonsum die Konsequenz oder die Ursache einer Entwicklungsstörung?). Die Fachleute sollten in ihren Empfehlungen eine ausgewogene Botschaft vermitteln, die sich zwischen Hoffnung und Vorteilen bis hin zu Vorsicht und Konsequenzen der Mediennutzung bewegt. Den Eltern, Betreuenden und Kindern muss klar aufgezeigt werden, wie die Zeit, welche am Bildschirm verbracht wird, die Zeit stiehlt für körperliche Aktivität, kreatives Spielen, interaktive Aktivitäten, soziale Erfahrungen, Respektieren des Gegenübers, lesen und sogar schlafen. Besonders im Kleinkindesalter. Das lehrreichste Spielzeug ist jenes, welches die Interaktionen zwischen Betreuern und Kindern unterstützt, verbessert und fördert und die Kinder dazu ermutigt, ihre Fantasie zu benutzen (ohne diese über zu stimulieren). Es muss nicht das neuste oder teuerste Spiel auf dem Markt sein. Im Gegenteil, viele alltägliche Aktivitäten enthalten, wie zum Beispiel gemeinsames Kochen, aufräumen, Bücher lesen usw, wichtige Aspekte des Spielens. Sie erfüllen alle Bedürfnisse (Motorik, Sprache, Interaktion und Sozialverhalten).

Es werden sicher noch weitere Studien benötigt, um den Missbrauch/ Überkonsum von «Bildschirm-Zeit» besser zu verstehen. Es gibt unendliche Möglichkeiten für digitale Medien, unser Lernen zu verbessern, unsere Gesundheit zu fördern und die Familie zu stärken. Gleichzeitig kann die Mediennutzung auch problematisch, übermässig und schädlich sein. Auch hier gilt: alles im richtigen Mass. Literatur • Digital Media Use in Children, JAMA Pediatrics Februar 2020 • Selecting Appropriate Toys for Young Children in the Digital Era, PEDIATRICS Januar 2019 • Kampf dem Missbrauch von Bildschirmen: Kinderärzte an vorderster Front, Paediatrica 2018 • BLIKK Studie 2018 Internetseiten https://kinder-4.ch https://jugendundmedien.ch https://generationsmartphone.ch https://globalkidsonline.net https://humanetech.com https://klick-tipps.net https://schau-hin.info https://zischtig .ch https://saferinternet.at Erzieherische Prinzipien • Erziehung zur Selbstregulation • gute Programme auswählen und Bildschirmzeit begrenzen • Begleitung: mit dem Kind besprechen, was es am Bildschirm sieht  • kreative Aktivitäten fördern • Eltern und Betreuende als Vorbild (Mediennutzung auf Familienebene diskutieren) Tipps • Nie als Babysitter • Keine Medien im Kinderzimmer • Tage planen ohne Fernsehen • Fernsehen vor dem Schlafengehen vermeiden • keine Bildschirmen bei der Mahlzeiten ln der nachfolgenden Tabelle als Zusammenfassung die Empfehlungen von Serge Tisseron (französische Psychoanalitiker), unterstützt von der Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie (SGP).

3-6-9-12

bottom of page